Widerspruch einlegen
Ihr seid unzufrieden mit der Entscheidung der Pflegekasse? Damit seid Ihr nicht allein. Etwa jeder fünfte Antrag auf Pflegeleistungen wird abgelehnt und viele weitere erhalten geringere Leistungen als erhofft. Doch es gibt eine zweite Chance: Legt Widerspruch ein. Etwa 30 Prozent aller Widersprüche sind erfolgreich.
Das Wichtigste in Kürze
- Wer mit der Entscheidung der Pflegekasse unzufrieden ist, kann dagegen Widerspruch einlegen. Dann muss die Versicherung den Fall erneut prüfen.
- Der eigentliche Widerspruch muss binnen eines Monats bei der Versicherung ankommen. Begründungen dürfen nachgereicht werden.
- Etwa 30 Prozent der Widersprüche sind erfolgreich, führen also zu höheren Leistungen oder überhaupt zu einem Pflegegrad.
- Lasst Euch am besten helfen. Spezialisierte Verbände und Vereine erreichen oft eine Erfolgsquote von mehr als 50 Prozent.
- Die Widerspruchsregelungen gelten für alle gesetzlich Versicherten. Die Möglichkeiten bei Privatversicherten weichen ab.
- Bleibt ein Widerspruch erfolglos, bleibt als letzter Weg eine Klage vor dem Sozialgericht.
Entscheidung anfechten
Wer einen Antrag auf Pflegeleistungen stellt, hat meist eine Vorstellung davon, welcher Pflegegrad nach der Begutachtung rauskommen sollte. Wahrscheinlich war das auch bei Dir der Fall. Und vielleicht hast Du schon konkrete Ideen, welche Hilfen mit dem Geld der Versicherung bezahlt werden sollen. Wenn die Entscheidung der Pflegeversicherung dann anders ausfällt und ein niedrigerer oder gar kein Pflegegrad anerkannt wird, fühlt sich das an wie ein Schlag ins Gesicht.
Viele wissen nicht, ob und was sie dann noch tun können. Doch Ihr könnt handeln: Legt Widerspruch ein. Wir erklären, wie das Verfahren funktioniert, wie der Widerspruch am besten begründet sein sollte, um Aussicht auf Erfolg zu haben, und welche Optionen es noch gibt, falls der Widerspruch nichts an der Entscheidung der Versicherung ändert.
Gut zu wissen: Ein günstigeres Ergebnis nach einem Widerspruch ist besonders aussichtsreich, wenn Pflegebedürftige nur knapp am nächsthöheren Pflegegrad vorbeigeschrammt sind. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die Kasse 26 Punkte und somit nur Pflegegrad 1 anerkennt, während es mit 27 Punkten die deutlich höheren Leistungen von Pflegegrad 2 gegeben hätte. In solchen Fällen reicht mitunter eine andere Einschätzung bei nur einer Frage für eine bessere Eingruppierung.
Einteilung der Pflegegrade
Der Pflegegrad ergibt sich aus den Punkten, die der medizinische Dienst bei der Begutachtung ermittelt hat. Die Punktwerte für die Einteilung in die Pflegegrade:
- weniger als 12,5 Punkte: kein Pflegegrad
- Pflegegrad 1: 12,5 bis unter 27 Punkte
- Pflegegrad 2: 27 bis unter 47,5 Punkte
- Pflegegrad 3: 47,5 bis unter 70 Punkte
- Pflegegrad 4: 70 bis unter 90 Punkte
- Pflegegrad 5: 90 bis 100 Punkte
Gründe für einen Widerspruch
Es gibt zulässige Gründe für einen Widerspruch. Dabei handelt es sich um Aspekte, die bei einer Begutachtung falsch laufen und somit zu einem falschen Ergebnis führen können. Solche Gründe sind zum Beispiel, wenn
- die pflegebedürftige Person am Tag der Begutachtung ungewöhnlich fit war,
- die pflegebedürftige Person ihren Unterstützungsbedarf als zu gering dargestellt hat, sich also tapferer und selbstständiger präsentiert hat, als sie eigentlich ist,
- wichtige Details nicht berücksichtigt wurden, obwohl sie erzählt oder gezeigt wurden,
- der Pflegebedarf seit der Begutachtung erneut deutlich gestiegen ist, etwa durch die Verschlimmerung einer Erkrankung.
Wenn Du einen dieser Gründe erkennst, dann stehen die Chancen sehr gut, dass ein Widerspruch erfolgreich ist. Falls Ihr unsicher seid, wie bestimmte Formulierungen im Schreiben zu verstehen sind, scheut Euch nicht, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Pflegestützpunkte zum Beispiel kennen sich mit Begutachtungsschreiben aus und können beim „Übersetzen“ helfen. Falls bereits regelmäßig ein Pflegedienst kommt, könnt Ihr auch bei einer Pflegekraft nachfragen, ob sie Euch ein paar Fragen zum Schreiben beantworten kann.
Ein Monat Zeit
Wenige Tage nach der Begutachtung schickt die Pflegeversicherung für gewöhnlich den Bescheid, in dem sie erklärt, ob und welcher Pflegegrad anerkannt wird. Wenn Ihr damit nicht einverstanden seid, ist der Widerspruch die Möglichkeit, gegen die Entscheidung der Pflegekasse vorzugehen. Wer diese Option nutzen will, muss aber recht zügig handeln. Spätestens einen Monat, nachdem der Bescheid bei der pflegebedürftigen Person angekommen ist, muss ein schriftlicher Widerspruch bei der Versicherung eintreffen. Um auf Nummer Sicher zu gehen, orientiert Euch am besten an dem Datum, das im Schreiben genannt ist.
Gut zu wissen: Binnen eines Monats muss nur der formelle Widerspruch bei der Pflegekasse ankommen. Eine Begründung könnt Ihr nachreichen. Und das solltet Ihr auch tun.
Wie muss der Widerspruch aussehen?
Den Widerspruch muss die pflegebedürftige Person schriftlich und rechtzeitig bei ihrer Pflegekasse einreichen. Angehörige dürfen das nur in Vertretung tun, wenn sie eine entsprechende Vollmacht haben. Helfen darfst Du aber in jedem Fall.
Bestimmte Formalia sind Pflicht. Das sind zunächst bestimmte Informationen, die das Widerspruchsschreiben enthalten muss, und zwar:
- Name
- Adresse
- Versicherungsnummer der pflegebedürftigen Person
- Datum und Unterschrift
Außerdem muss das Schreiben eindeutig als Widerspruch erkennbar sein. Es sollte daher am besten „Widerspruch gegen den aktuell festgelegten Pflegegrad“ oder „Widerspruch gegen die Ablehnung eines Pflegegrads“ als Titel auf dem Schreiben stehen.
Unser Tipp: Weist im Widerspruchsschreiben darauf hin, dass eine Begründung nachgereicht wird. Für die Begründung müsst Ihr keine Frist einhalten.
Um nachweisen zu können, dass Ihr den Widerspruch rechtzeitig abgeschickt habt, schickt ihn am besten als Einschreiben mit Rückschein ab. Bewahrt außerdem unbedingt den Bescheid auf, mit dem Ihr unzufrieden seid, am besten auch dessen Umschlag. Dann habt Ihr mit dem Poststempel im Bedarfsfall einen Nachweis, wann der Brief frühestens ankam.
Erfolg beim Widerspruch
Damit der Widerspruch Aussichten auf Erfolg hat, sollte er gut begründet sein. Nutzt dafür als Basis das Gutachten, das zusammen mit dem Bescheid verschickt werden muss. Darin sollte sich erkennen lassen, wie viele Punkte die Versicherung bei jeder Frage anerkannt hat. Setzt Euch nach Möglichkeit zusammen. Notiert gemeinsam für jede Frage, bei der Eurer Meinung nach nicht genügend Punkte vergeben wurden, warum Ihr diese Entscheidung für falsch haltet, welche Punktzahl Eurer Meinung nach angemessen wäre und warum.
Gut zu wissen: Sozialverbände wie SoVD, VdK, manche Gewerkschaften und Vereine helfen dabei, die Begründung für einen Widerspruch zu formulieren. Nutzt dieses Angebot, wenn möglich. Die Profis haben meist eine Erfolgsquote von mehr als 50 Prozent. Die Hilfe ist für Mitglieder teils kostenfrei, teils muss ein Honorar bei Erfolg gezahlt werden.
Idealerweise könnt Ihr nachweisen, dass bestimmte Einschränkungen vorliegen, die im Gutachten nicht berücksichtigt wurden. Dafür helfen zum Beispiel ärztliche Atteste oder eine Bestätigung durch einen Pflegedienst, wenn bereits regelmäßig Pflegekräfte kommen. Die Profis können oft auch Tipps geben, welche Fachbegriffe helfen, bestimmte Probleme darzulegen.
Gut zu wissen: Falls Pflegebedürftige Geld für Beratungen oder Gutachten ausgeben, muss die Pflegekasse die Kosten erstatten, wenn der Widerspruch erfolgreich ist. Hebt daher entsprechende Quittungen auf.
Nach dem Widerspruch
Meist reagiert die Pflegekasse innerhalb weniger Wochen auf einen Widerspruch. Laut Gesetz hat sie aber bis zu drei Monate lang Zeit für eine Antwort. Folgende Varianten sind möglich:
Verbesserung nach Aktenlage
Die Kasse erkennt aufgrund der Begründungen nach Aktenlage einen höheren (oder überhaupt einen) Pflegegrad an. Das ist optimal, denn dann müsst Ihr nichts weiter tun und die pflegebedürftige Person kann sofort die gewünschten Leistungen nutzen – und zwar rückwirkend ab dem Tag des ersten Antrags.
Zweite Begutachtung
Die Kasse schlägt einen neuen Begutachtungstermin vor. Bei diesem soll die Lage erneut ermittelt und ein Pflegegrad neu festgelegt werden. Die Begutachtung selbst läuft genauso ab wie beim ersten Mal. Es werden also nicht nur die kritischen Punkte erneut geprüft, sondern alle. Aber dieses Mal muss eine andere Fachkraft kommen. Gut ist, dass alle nun bereits wissen, was auf sie zukommt. Ihr könnt besser einschätzen, bei welchen Fragen genauere Informationen nötig sind, damit die Fachkraft den Unterstützungsbedarf gut einschätzen kann. Vielleicht hakt die Fachkraft hier auch besonders detailliert nach, um erneute Missverständnisse zu vermeiden. Versteht das nicht als unangenehmes Nachbohren, sondern als Chance, dass diesmal der korrekte Hilfebedarf erkannt wird.
Macht Euch vorher zu den Knackpunkten, die nach dem ersten Begutachtungsbesuch nicht ausreichend bepunktet wurden, ausführliche Notizen. Schreibt detailliert auf, welche Hilfe im Alltag nötig ist. Solche schriftlichen Beschreibungen können Wunder bewirken. Wenn möglich, besorgt zusätzlich ärztliche Nachweise. Auch diese können enorm helfen.
Falls sich die pflegebedürftige Person beim ersten Besuch als besonders selbstständig dargestellt und zum Beispiel aus Scham bestimmte Einschränkungen verschwiegen hat, besprecht das nach Möglichkeit vor der Zweitbegutachtung. Nimm Dir Zeit für dieses Gespräch und zeige Verständnis. Es fällt niemandem leicht zu zeigen, welche scheinbaren Selbstverständlichkeiten man plötzlich nicht mehr beherrscht. Doch wirklich alle Einschränkungen sollten benannt werden, damit Deine Angehörige oder Dein Angehöriger auch wirklich den Pflegegrad bekommen kann, der angemessen ist.
Die Fehler von der ersten Begutachtung sollten kein zweites Mal passieren. Daher erkennt die Pflegeversicherung hoffentlich nach dem zweiten Versuch einen angemessenen Pflegegrad an. Es dauert wieder einige Tage, bis der neue Bescheid nach der Zweitbegutachtung eintrifft. Wenn Ihr dieses Mal mit dem Ergebnis einverstanden sind, kann die pflegebedürftige Person ab sofort die neuen Leistungen nutzen. Erkennt die Kasse an, dass schon beim vorherigen Antrag ein höherer Pflegegrad angemessen gewesen wäre, gilt der Anspruch auf die höheren Leistungen sogar rückwirkend ab dem ersten Antrag. Haben sich zwischendurch Verschlechterungen ergeben, gilt der höhere Pflegegrad erst mit dem neuen Bescheid.
Widerspruchsausschuss
Kommt die Versicherung nach erneuter Prüfung der Akten oder nach der Zweitbegutachtung zum gleichen Ergebnis wie beim ersten Mal, wird der Fall automatisch intern an den sogenannten Widerspruchsausschuss weitergeleitet. Dessen Mitglieder sind neben Kassenvertretern auch Gewerkschaftler und Patientenvertreter. Der Ausschuss muss den konkreten Fall samt aller Unterlagen prüfen. Gibt der Ausschuss dem Widerspruch Recht, kommt ein entsprechender Bescheid und die pflegebedürftige Person kann die höheren Leistungen in Anspruch nehmen.
Möglichkeit zur Klage
Wenn der Widerspruchsausschuss zum gleichen Ergebnis kommt wie die Pflegekasse, dann gibt es zwei Optionen. Entweder Ihr akzeptiert die Entscheidung, nutzt die geringeren (oder keine) Leistungen und startet später einen erneuten Versuch. Das ist frühestens nach sechs Monaten möglich, sofern nicht gerade besondere Umstände vorliegen wie beispielsweise ein Schlaganfall.
Der letzte Weg ist die Möglichkeit zur Klage. Die pflegebedürftige Person hat auch dafür einen Monat Zeit. Innerhalb dieser Frist könnt Ihr vor dem zuständigen Sozialgericht eine Klage gegen die Entscheidung der Pflegeversicherung einreichen. Die Klage selbst ist kostenfrei und es entstehen auch keine Gerichtskosten. Wer die Aussichten auf Erfolg erhöhen möchte, sollte allerdings anwaltliche Unterstützung mit entsprechender Zusatzqualifikation einschalten. Diese Kosten müssen aus eigener Tasche finanziert werden.
Im Laufe des Verfahrens ist es außerdem üblich, dass ein unabhängiger Pflegesachverständiger eine erneute Begutachtung vornimmt. Auch das muss die klagende Person bezahlen. Hat die Klage Erfolg, muss die Pflegeversicherung die entstandenen Kosten allerdings erstatten.
Gut zu wissen: Eine Klage dauert lange und kostet Geld und Nerven. Lasst daher am besten die Erfolgsaussichten vorher anwaltlich prüfen. Zum Beispiel die Verbraucherzentrale oder ein Sozialverband wie SoVD oder VdK vermitteln spezialisierte Honoraranwälte. Für Verbandsmitglieder werden oft sogar die Kosten übernommen.
Regelungen für Privatversicherte
Das beschriebene Widerspruchsverfahren ist ein Anrecht, das der Gesetzgeber für gesetzlich Versicherte festgelegt hat. Privatversicherer sind nicht daran gebunden. Wer also beispielsweise als Beamter, Richter, Soldat oder Mitversicherte privat pflegeversichert ist, kann gegen die Entscheidung der eigenen Pflegeversicherung leider keinen Widerspruch einlegen.
Wer mit der Entscheidung einer privaten Pflegeversicherung unzufrieden ist, kann aber versuchen, diese schriftlich umzustimmen. Beschreibe dafür sachlich und konkret, welche Punkte Du anders siehst und reiche, wenn möglich, ärztliche oder pflegerische Nachweise ein. Manchmal stimmen die Versicherer dann einer Zweitbegutachtung zu. Dann haben auch Privatversicherte eine neue Chance, die vorhandenen Schwierigkeiten und den Unterstützungsbedarf im Alltag realistischer darzustellen. Im Idealfall kommt ein höherer Pflegegrad nach der Zweitbegutachtung heraus.
Lehnt die Privatversicherung eine Zweitbegutachtung ab oder kommt erneut zum gleichen Ergebnis, bleibt als rechtliche Alternative der Gang vors Sozialgericht. Hier gelten für alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen, oben genannten Regeln.
Lebenslange Überzeugungen
In der Situation einer Begutachtung gilt es, eines zu bedenken: Viele heute Pflegebedürftige sind in den 1930er oder 1940er geboren und mit ähnlichen Werten und Erfahrungen aufgewachsen. Viele dieser über Jahrzehnte verinnerlichten Überzeugungen verbieten geradezu bestimmte Eingeständnisse. Dazu gehören zum Beispiel: Über Untenrum-Themen spricht man nicht. Jegliche Schwäche kann gegen Dich verwendet werden, also zeige sie nicht. Wenn Du doch mal eine Schwäche zugibst, dann höchstens innerhalb der Familie. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Nur die Starken kommen weiter. Es geht schon noch, ich habe ganz anderes überstanden…
Wenn solche Überzeugungen tief verankert sind, dann ist es schwer, diese mal eben abzulegen. Aber manchmal ist es möglich. Und manchmal hilft es auch schon, zumindest einmal eine Ausnahme zu machen, damit die Fachkraft die Leistungen zusprechen kann, die einem zustehen. Oft braucht es dafür aber verständnisvolle und wertschätzende Impulse.