Gut vorbereitet in die Begutachtung

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Damit die Pflegeversicherung etwas bezahlt, braucht man einen Pflegegrad. Der wird in einer sogenannten Begutachtung – meist bei einem Hausbesuch – individuell festgelegt. Viele Familien sind vor diesem Termin etwas nervös. Lies hier, was auf Euch zukommt und wie ihr Euch gut auf den Termin vorbereiten könnt.

Das Wichtigste in Kürze

  • Wer einen Antrag auf Pflegeleistungen gestellt hat, bekommt von der Versicherung einen Vorschlag für einen Begutachtungstermin geschickt.
  • Bei der Begutachtung prüft eine speziell geschulte Fachkraft, wie selbstständig jemand noch sein Leben führen kann. Das dauert etwa 30 bis 90 Minuten.
  • Die Art der Überprüfung ist gesetzlich festgelegt und umfasst 64 Fragen und Übungen, für die es Punkte gibt.
  • Aus dem Punktwert wird am Ende ein Pflegegrad zwischen 1 und 5 ermittelt – oder ein Anspruch auf Leistungen wird abgelehnt.
  • Ein Ergebnis muss binnen 5 Wochen nach Antragstellung vorliegen. Wer damit nicht einverstanden ist, kann Widerspruch einlegen.

Der Begutachtungstermin

Du hast selbst oder mit einem Angehörigen einen Antrag auf Pflegeleistungen gestellt? Dann steht bald ein Begutachtungstermin an. Dieser Termin ist gesetzlich vorgeschrieben, damit alle Versicherten in Deutschland unter gleichen Bedingungen die Chance auf Leistungen von der Pflegekasse haben. Denn nach der Begutachtung legt die Versicherung einen Pflegegrad fest. Und je nach Einstufung haben die Antragstellenden dann Anspruch auf eine bestimmte Höhe an Leistungen.

Wer kommt zur Begutachtung?

Die Begutachtung und ihr Ablauf sind nach engen, gesetzlichen Bestimmungen geregelt. Begutachten dürfen ausschließlich Fachkräfte mit einer pflegerischen oder medizinischen Ausbildung und einer passenden Zusatzqualifikation. Zu gesetzlich Versicherten kommt jemand vom Medizinischen Dienst (MD, früher MDK). Zu privat Versicherten kommt jemand von der Firma Medicproof. Beide Dienste sind extra dafür da, solche Begutachtungen durchzuführen.

Gut zu wissen: Die Begutachtung muss immer neutral und unabhängig sein.

Was passiert bei der Begutachtung?

Die Begutachtung soll die Frage klären, bei welchen Tätigkeiten jemand Hilfe benötigt. Die Antwort wird nach einem festen Verfahren ermittelt, das für alle Versicherten – auch für privat Versicherte – gleich abläuft. Die Grundlage ist das sogenannte Begutachtungsinstrument, das im Pflegestärkungsgesetz II vom 1. Januar 2017 festgelegt wurde.

Gut zu wissen: Es ist egal, warum jemand Unterstützung und Pflege braucht, also ob eine Krankheit, ein Unfall, eine Behinderung oder einfach die Auswirkungen des Alters der Grund sind. Entscheidend für die Pflegeversicherung ist lediglich, dass jemand dauerhaft Hilfe im Alltag braucht.

Die Module

Um den Grad der Selbstständigkeit zu ermitteln, stellt die Fachkraft beim Begutachtungstermin 64 Fragen aus insgesamt sechs Lebensbereichen, den sogenannten Modulen. Für die Antworten gibt es unterschiedlich viele Punkte, je nachdem wie viel Hilfe in den einzelnen Bereichen jemand braucht. Je mehr Punkte jemand bekommt, desto höher fällt der Pflegegrad aus und desto höhere Leistungen sind möglich.

Beispiele aus den einzelnen Modulen sind:

Modul 1: Mobilität
  • Laufen im Wohnbereich
  • Hinsetzen, hinlegen und aufstehen
  • Treppensteigen
Modul 2: Kognitive und kommunikative Fähigkeiten
  • Orientierung – zeitlich und räumlich
  • Menschen erkennen
  • Fragen verstehen und passende Antworten geben
Modul 3: Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
  • Ängste und Aggressionen
  • Wehren gegen notwendige, pflegerische Hilfen
  • Nächtliche Unruhe
Modul 4: Selbstversorgung
  • Essen und trinken
  • Toilette benutzen
  • Waschen und anziehen
Modul 5: Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen
  • Medikamente selbstständig zurechtlegen und einnehmen
  • Allein zum Arzt gehen
  • Mit Hilfsmitteln wie einem Rollator umgehen
Modul 6: Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte
  • Tagesablauf selbstständig gestalten
  • Kontakte zu Freunden pflegen
  • An Veranstaltungen teilnehmen

Gut zu wissen: Wer Probleme ehrlich nennt, bekommt dafür Punkte, aber muss nicht in genau diesem Bereich später Hilfe annehmen! Wenn jemand zum Beispiel "zugibt", immer mal wieder Urin zu verlieren, dann müssen von dem zugesprochenen Geld der Pflegeversicherung später nicht zwangsläufig Einlagen gekauft werden. Der Pflegegrad ermöglicht ein Anrecht auf Leistungen. Ob und wie man das nutzen möchte, darf aber jede pflegebedürftige Person selbst entscheiden.

Von den Punkten zum Pflegegrad

Die Antworten aus allen Modulen werden unterschiedlich gewichtet, um ihre Wichtigkeit im Alltag abzubilden. So wiegen Schwierigkeiten in der Selbstversorgung (Modul 4) deutlich schwerer als etwa die Gestaltung sozialer Kontakte (Modul 6). Am Ende entsteht ein Punktwert zwischen 0 und 100. Aus dieser Gesamtpunktzahl ergibt sich der Pflegegrad.

Weniger als 12,5 Punkte: Kein Pflegegrad. Die Beeinträchtigungen werden als nicht schwer oder regelmäßig genug angesehen, um Leistungen von der Pflegeversicherung zu erhalten.

12,5 bis unter 27 Punkte: Pflegegrad 1. Es bestehen geringe Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten, sodass die Pflegeversicherung alle Basis-Leistungen gewährt.

27 bis unter 47,5 Punkte: Pflegegrad 2. Es bestehen erhebliche Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten. Ab Pflegegrad 2 können sämtliche Leistungen in Anspruch genommen werden. In den höheren Pflegegraden steigen die maximal möglichen Beträge.

47,5 bis unter 70 Punkte: Pflegegrad 3: Es bestehen schwere Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten.

70 bis unter 90 Punkte: Pflegegrad 4: Es bestehen schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten.

90 bis 100 Punkte: Pflegegrad 5: Es bestehen schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung.

Gut zu wissen: Es gibt noch 14 weiteren Fragen zu Haushaltführung und Außer-Haus-Aktivitäten, die zwar keine Punkte bringen, aber dabei helfen sollen, die Gesamtsituation einzuschätzen. Nach dem Beantworten der Fragen muss die Fachkraft auch über sinnvolle Hilfsmittel beraten. Bei Bedarf könnt ihr direkt einen Antrag auf Finanzierung dafür stellen.

Vorbereitung

Viele Familien möchten sich gerne auf den Begutachtungstermin vorbereiten. Das ist oft auch sinnvoll und zwar in zwei Hinsichten:

  1. Du kannst Unterlagen bereitlegen, die nachweisen, dass bestimmte Probleme vorliegen.
  2. Ihr könnt euch gemeinsam darauf einstellen, dass auch Fragen gestellt werden, die vielen Menschen unangenehm sind.
Nötige Unterlagen

Schriftliche Unterlagen helfen als „Beweise“ und ersparen euch so manche Erklärung von Details. Legt daher rechtzeitig alles bereit, was bei der Begutachtung helfen könnte. Dazu gehören, sofern vorhanden, insbesondere

  • aktuelle Berichte von Ärztinnen und Ärzten
  • aktuelle Entlassbriefe von Krankenhäusern oder Reha-Einrichtungen
  • Medikamentenplan
  • Liste der genutzten Hilfsmittel, wie Brille, Hörgerät, Gehstock, etc.
  • Schwerbehinderten-Ausweis
  • Pflegedokumentation (private Auflistung oder vom Pflegedienst, falls bereits einer kommt)

Eine private Pflegedokumentation muss keine besonderen Anforderungen erfüllen. Hilfreich ist es zum Beispiel, wenn Du stichpunktartig für einen typischen Tag oder eine typische Woche notierst, welche Hilfe Du bereits leistest. Schreibe auch scheinbare Kleinigkeiten auf, wie etwa Hilfe beim Einkaufen. Vielleicht bist Du selbst erstaunt, welche Kleinigkeiten sich mittlerweile läppern. Die Beschreibungen helfen sowohl Euch als Familie als auch der Fachkraft, einen guten Überblick über die aktuell nötige Unterstützung zu erhalten.

Unangenehme Fragen

Nur die wenigsten Menschen sprechen gerne darüber, aber es ist durchaus entscheidend, ob jemand sich gut allein ausziehen, selbstständig duschen und abtrocknen, auf die Toilette setzen, beide möglichen Geschäfte verrichten, sich anschließend säubern und wieder anziehen kann. Auch dass gelegentlich etwas in die Hose geht, ist mit zunehmendem Alter keine Seltenheit und sollte auf keinen Fall aus Scham verschwiegen werden. Bereitet Euch gemeinsam darauf vor, dass solche Fragen kommen werden und gebt darauf möglichst ehrliche Antworten.

Folgende Überlegungen können dabei helfen:

  • Die Fachkraft macht das jeden Tag. Sie hat vermutlich alles schon gehört und deshalb braucht sich niemand für ehrliche Antworten zu schämen.
  • Die Fachkraft soll sich ein realistisches Bild vom Alltag machen. Sie soll Punkte vergeben und mögliche Hilfen vorschlagen. Das kann sie nur dann optimal erfüllen, wenn Ihr als Befragte auch ehrlich antwortet.
  • Schweigen ist kein Gold, sondern kann ziemlich schnell sehr weh tun, zum Beispiel wenn man sich nicht mehr gut allein den Po säubern kann. Deshalb redet miteinander und versucht, gemeinsam mit der Fachkraft für alle Probleme eine Lösung zu finden. Oft gibt es mehr hilfreiche Möglichkeiten, als man zu fragen gewagt hätte. Und der Alltag ist dann so viel angenehmer, dass es die Überwindung wert ist, über das Unangenehme gesprochen zu haben.
Nicht übertreiben…

Wenn die Fachkraft sich zur Begutachtung ankündigt, haben viele Antragstellende das Bedürfnis, alles so richtig schön ordentlich aufzuräumen und sich für den Termin auch selbst schick zu machen. Unser Rat ist: Lasst das besser.

Natürlich darf das Wohnzimmer einigermaßen aufgeräumt und gestaubsaugt sein. Und natürlich sollen sich alle in ihrer Kleidung wohl fühlen. Aber die Kleidung sollte vor allem bequem sein und die Arbeit sollte sich auf ein vernünftiges Maß beschränken. Denn zum einen soll die Fachkraft sich ja ein realistisches (!) Bild der Lage machen und zum anderen besteht sonst die Gefahr, dass die pflegebedürftige Person vor lauter Anstrengung just zum Begutachtungstermin krank wird.

Ihr solltet außerdem nicht für die Begutachtung üben. Denn auch hier gilt: Es geht nicht darum, besonders tapfer zu sein und ganz viel am Termin zu schaffen, sondern die Fachkraft soll einen Einblick in den Alltag bekommen, um Punkte für nötige Unterstützungsleistungen zu vergeben. Daher bereitet Euch gerne seelisch gut auf den Termin vor. Aber übertreibt es nicht.

Gut zu wissen: Sämtliche Fragen und Module lassen sich online nachlesen. Ihr könnt euch also vorab schon einmal durchklicken, um euch einen Überblick zu verschaffen, was beim Termin auf euch zukommt. Um es Euch so einfach wie möglich zu machen, verlinken wir hier so bald wie möglich unseren eigenen Pflegegrad-Rechner.

Nach der Begutachtung

Die Fachkraft schickt die Ergebnisse nach der Begutachtung zur zuständigen Pflegeversicherung. Diese fällt dann innerhalb weniger Tage die Entscheidung, ob und welcher Pflegegrad anerkannt wird. Das Ergebnis schickt sie per Post. Auch der Begutachtungsbericht muss mitgeschickt werden. So könnt Ihr überprüfen, für welche Fragen es wie viele Punkte gab.

Nicht zufrieden?

Wenn Ihr nicht einverstanden seid mit dem Ergebnis, etwa weil der Pflegegrad-Rechner einen höheren Pflegegrad ermittelt hatte als die Versicherung nun zusteht, dann habt Ihr mehrere Möglichkeiten.

Gesetzlich Versicherte können binnen eines Monats Widerspruch einlegen. Wie das geht und was Du beachten musst, erklärt unser Beitrag „Widerspruch einlegen“ (Link unten). Privat Versicherte können keinen Widerspruch einlegen, aber mit ihrer Versicherung verhandeln. Auch das ist im Widerspruchs-Artikel erklärt. Sollten Widerspruch oder Verhandlung nichts an der Entscheidung der Versicherung ändern, kannst Du dagegen klagen. Auch dazu haben wir einen Beitrag veröffentlicht.

Leistungen erhalten

Die meisten Familien erhalten aber den gewünschten Pflegegrad. Wenn Ihr einverstanden seid, könnt Ihr mit dem Bescheid die gewünschten Leistungen bei der Pflegeversicherung beantragen. Das geht übrigens rückwirkend bis zum Tag der ursprünglichen Antragstellung. Ihr könnt monatliche, jährliche und einmalige Leistungen beantragen. Was für Deine Familie sinnvoll ist, hängt von den Umständen ab. Im Artikel „Leistungen der Pflegeversicherung“ bieten wir eine allgemeine Übersicht.

Beratung nutzen

Um das Optimum zu finden, könnt Ihr Euch als Familie oder Du als Einzelperson individuell beraten lassen. Das ist kostenfrei möglich, auch bei den Johannitern. Weitere Details kannst Du im Artikel „Allgemeine Beratungsangebote“ lesen.

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